Heart to Heart

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Demon
Squatter
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Heart to Heart

Beitrag von Demon »

I
Faith starrte ungläubig auf den Bildschirm. Was sie da sah, konnte nicht, durfte nicht die Wahrheit sein, denn sonst wäre alles, was sie gesehen und erlebt hatte, umsonst und – noch schlimmer – eine Lüge gewesen.
Vor zwei Tagen hatte man eine Disk unter ihrer Tür durchgeschoben, eingefaßt in einen durchsichtigen Umschlag, ohne Absender oder sonstige Hinweise darauf, wo das Päckchen hergekommen sein könnte. Sie hatte einen Freund gebeten, die Disk und die Verpackung auf Spuren und Fingerabdrücke zu untersuchen, doch dabei war nichts herausgekommen. Ebenso bei der magischen Untersuchung, die sie vorgenommen hatte, um den eventuellen Überbringer zu ermitteln. Aber Fehlanzeige. Alles lief ins Leere.
Danach hatte sie sich den Inhalt einmal angesehen, ungläubig, skeptisch.
Fassungslos.
Panisch einmal.
Sie hatte auch den Inhalt überprüfen lassen, jedes einzelne Bild des gut zehnminüti-gen Videos, aber man hatte ihr bestätigt, daß es keine Fälschung sein konnte. Niemand hatte das Video manipuliert. Natürlich konnte alles, was sie sah, gestellt sein. Aber allmählich häuften sich die Verdachtsmomente, und Faith, die noch größere Sorgen hatte, begann an Eric zu zweifeln.
Wie viele Male hatte er ihr geschworen, daß er sie nicht belog? Daß er alles ernst gemeint hatte und daß er sein Leben für sie geben würde?
Wie viele Male?
An der Disk war nicht manipuliert worden, auch nicht am Inhalt, denn wenn das ge-stellt war, dann hatten sich für die zehn Minuten eine Reihe verdammt guter Schau-spieler, Produzenten und Regisseure gefunden.
Faith drückte auf Replay und ließ das Video noch einmal von vorn laufen. Sie mußte es sich noch einmal ansehen, um Gewißheit zu haben.

Auf einem Stuhl sitzt eine Frau Mitte zwanzig. Sie hat rote Haare, die ihr in einem lan-gen Pferdeschwanz nach hinten fallen. Ihre Augen sind grün, die Haut blaß wie die Wand hinter ihr. Eine zierliche Nase rundet das ansonsten eher ovale Gesicht ab, und eine Strähne hängt ihr in die Stirn. Ihr Blick ist irgendwie leer, verloren im Nichts.
Stimmen sind im Hintergrund zu hören, aber sie sind zu undeutlich, man kann kein Wort verstehen. Es ist nur Gemurmel, Raunen, Flüstern.
Irgendwann hört das Gemurmel auf, und eine Stimme eines Mannes, der direkt ne-ben der Kamera zu sein scheint, sagt: „Guten Morgen, Jennifer. Ich bin Dr. Kessler. Ich bedaure, Sie noch einmal belästigen zu müssen, aber es ist wichtig, daß Sie mir einige Fragen beantworten. Ist das in Ordnung für Sie?“
Eine volle Minute vergeht, bevor die Frau – Jennifer – nickt und damit anzeigt, daß sie verstanden hat.
„Gut“, fährt Kessler fort. „Wären Sie so freundlich, und nennen Sie mir ihren vollstän-digen Namen? Nur für das Protokoll.“
Jennifer nickt erneut. „Jennifer Morton“, antwortet sie mit leiser, schüchterner Stim-me.
„Danke, Jennifer.“ Kessler scheint seine nächste Frage gut abzuwägen, denn einige Sekunden lang herrscht Stille. Schließlich sagt er: „Erzählen Sie mir etwas von ihrer Beziehung zu ihrem Ex-Verlobten, Jennifer.“
Die Frau mit den roten Haaren lächelt seltsam. Sie wirkt wie weggetreten, als müßte sie weit in die Vergangenheit blicken, um sich erinnern zu können. Die Kamera zoomt näher an ihr Gesicht heran. Es ist scharf umrissen, und jede einzelne Bewegung von Mund und Augen ist zu erkennen.
„Sie reden von Eric, richtig?“ fragt sie, ebenso leise wie zuvor, nur ohne die Schüch-ternheit.
„Ganz recht“, antwortet Kessler ruhig. „Können Sie mir sagen, wie er mit vollständi-gem Namen hieß?“
Jennifer sagt: „Sicher. Eric Artim. Wir waren schließlich verlobt, und ich wollte ihn heiraten. Eigentlich will ich das immer noch.“
„Und wollte er Sie ebenfalls heiraten?“ fragt Kessler, immer noch so ruhig wie vor-her, fast schon kühl, aber mit dem besorgten Unterton eines Arztes, dem das Wohl jedes einzelnen Patienten am Herzen liegt.
„Ich glaube, ja. Er hat sich lange nicht mehr gemeldet. Er hat vermutlich viel zu tun“, gibt Jennifer zur Antwort. In ihren Augen liegen keine Zweifel. Sie glaubt, was sie sagt, und ihre Stimme ist fest. Ihre Mundwinkel zucken nach oben, als könne sie sich nicht recht entscheiden, ob sie froh oder traurig darüber sein soll, daß Eric zwar gefragt, aber noch keine Anstalten gemacht hat, sie zu heiraten.
Kessler fährt fort: „Eric hat Ihnen doch ihre Liebe gestanden. Was haben Sie dabei empfunden?“
Jennifer lächelt nun doch, wenn auch nur leicht, aber sie ist erfreut über die Erinne-rung an ihre Gefühle. „Als würde ich auf Wolken schweben. Eric hat mich immer ver-standen, mir versprochen, bei mir zu bleiben … für immer, das hat er gesagt.“ Sie zö-gert kurz. „Es ist nur …“ Sie schlägt die Augen nieder. „Er ist derzeit nicht da, viel un-terwegs, wissen Sie? Er hat’s im Leben nicht leicht gehabt. Keine Eltern mehr, keine Familie. Er braucht Zeit, um seine Vergangenheit zu verarbeiten. Deshalb ist er so oft weg …“
Ihre Stimme verliert sich etwas, doch von der Überzeugung darin ist nichts ver-schwunden.
Kessler brummt verständnisvoll. „Gut, Jennifer. Danke. Das wäre alles für heute. Es war nett von Ihnen, mich noch einmal zu empfangen.“
„Schon gut“, sagt sie leise. „Gern geschehen.“
Ein Stuhl wird zurückgeschoben. Dr. Kessler entfernt sich von der Kamera, den Mi-krofonen. Wieder Gemurmel im Hintergrund.
Der Bildschirm wird schwarz.
Eine halbe Sekunde später erscheint ein neues Bild, diesmal aus der Perspektive ei-ner Kamera, die an einer oberen Ecke einer etwas neun Quadratmeter kleinen und an allen Seiten ausgepolsterten Zelle angebracht ist.
Jennifer, die rothaarige Frau aus dem Interview, tobt wie eine Furie durch die Zelle. Sie hämmert auf die Wände ein, krallt sich mit den Fingernägeln hinein, doch ihre Be-mühungen sind vergebens. Ihre roten Haare kleben in schweißnassen Strähnen in ih-rem Gesicht, während sie wie eine Wilde Wände und Boden mit Fäusten und Füßen malträtiert.
„Ich muß zu ihm!“ brüllt sie, und von der sonst so sanften Stimme ist nichts geblie-ben. „Wo ist Eric? Warum laßt ihr mich nicht zu ihm? Ich will ihn sehen!“
Sie verharrt für einen Augenblick und holt Luft. Dann beginnt ein neuer Tobsuchtsan-fall, der sie völlig verausgabt. Während der nächsten drei bis vier Minuten schreit Jen-nifer sich die Lunge aus dem Hals, hämmert erneut – diesmal jedoch stärker – auf die gepolsterten Wände ein und schafft es tatsächlich, ein Loch hineinzuschlagen. Beflü-gelt davon beginnt sie, die Schaumstoffpolsterung herauszureißen. Sie krallt sich mit den bereits blutigen Fingernägeln an dem Schaustoff fest, reißt sogar Stücke mit den Zähnen heraus.
Schließlich, nachdem sie die Flocken auf dem Boden verteilt hat, bricht sie kraftlos zusammen. Jennifer hat sich völlig verausgabt und rollt sich in Fötalhaltung zusammen, in der sie nach nicht einmal zehn Sekunden einschläft.
Stille herrscht.
Dr. Kesslers Stimme durchbricht die Monotonie des Bildes.
„Wie wir an der Patientin und ihrem Verhalten feststellen konnten, handelt es sich um einen klassischen Fall von Abhängigkeit, wie er normalerweise nur von regelmäßi-gem Drogenkonsum herrührt. Alle Tests auf Drogenmißbrauch waren bei Jennifer Mor-ton jedoch negativ, und ihre Abhängigkeit rührt, wenn man die von ihr gegebenen Interviews in Betracht zieht, auf ihre Beziehung zu Eric Artim her.“
Einen Moment lang schweigt Kessler, die Kamera zoomt näher an Jennifer heran. Sie hat aufgehört zu atmen.
„Wir können also festhalten: Eric Artim ist in der Lage, die Gefühle anderer Men-schen, insbesondere Frauen, dermaßen zu manipulieren, daß sie sich in eine Abhän-gigkeit begeben, aus der sich nur wenige zu lösen vermögen. Trotz – oder gerade wegen – Erics Unvermögen, selbst Gefühle zu empfinden, ist das Ergebnis phänome-nal. Das Projekt Demon ist damit aus meiner Sicht als voller Erfolg einzustufen.“
Stille, dann Schwärze.
Auf dem Bildschirm erscheinen in weißer Schrift folgende Zeilen:

Projekt Demon
Versuchsobjekt Nr. 00014 (Jennifer Morton)
Status: Geschlossen

Schließlich verblaßt die Schrift.
Ende der Aufnahme.


Faith merkte gar nicht, daß sie weinte. Sie schaltete das Gerät ab, starrte noch einige Sekunden darauf, als könnte sie noch immer nicht recht begreifen, was da vor sich ge-gangen war.
Hatte Eric das wirklich zu verantworten? War er wirklich so gefühllos, wie dieser Kessler behauptete?
Faith schniefte. Erst jetzt bemerkte sie die Tränen, die ihr über die Wangen gelaufen und auf ihre Knie getropft waren. Sie hatte die Beine angezogen und mit den Händen umschlungen, während sie sich das Video von dieser Jennifer angesehen hatte.
Sie schluckte.
Projekt Demon …
Demon war Eric Straßenname gewesen. Unter diesem Namen hatte sie ihn kennen-gelernt, sich in ihn verliebt, mit ihm geschlafen, ihn verloren … Dann hatten sie sich wiedergesehen, nach Wochen, in denen soviel geschehen war, und die Liebe war so heiß wieder aufgeflammt, als hätte es keine Trennung gegeben.
Heiß und innig. Für immer, hatte Eric gesagt.
Für immer.
Auch diese Jennifer aus dem Video hatte das gesagt.
Hieß das, Eric benutzte immer das gleiche Muster? War das seine Art, festzustellen, wie die Frauen auf ihn reagierten, nur um sie fallenzulassen, einsam und gebrochen? Eine lebende, atmende Droge?
Nein. Nein, das konnte Faith nicht glauben. Eric war nicht so, daß wußte sie. Ihr Herz und ihr Verstand ließen keine andere Möglichkeit zu, als daß Eric sie ebenso liebte wie er sie.
Faith wischte sich die Tränen ab, stellte die Füße wieder auf den Teppich unter dem Sofa, stand auf und nahm die Disk aus dem Player. Sie betrachtete die silberne, unbe-schriftete Scheibe. Die glaubten doch wohl nicht, sie würde auf diesen Mist hereinfal-len?
Und trotzdem … Da war Zweifel, da waren Fragen.
Dann such die Antworten, sagte sie zu sich selbst. Für alles gibt es Gründe. Und du weißt genau, wenn du nicht fragst, bekommst du keine Antworten. Du bist stark. Du lebst. Für ihn. Für dich. Für das Kind.
Unmerklich streichelte sie über ihren Bauch, der noch immer schlank war. Bei elfischen Frauen dauerte eine Schwangerschaft länger als bei Norm-Frauen, das wußte Faith, und es würde eine Weile dauern, bis das Kleine in ihr soweit herangereift war, daß sie einen Kugelbauch bekommen würde.
Sie war in der dritten Woche – gerade einmal –, und dennoch würde sie in absehba-rer Zeit Mutter sein, die Mutter von Erics Kind. Er war seines, kein Zweifel.
Faith sah an sich hinab, lächelte etwas. „Dein Vater ist nicht so. Ich glaube das nicht. Und wir werden alles dafür tun, daß wir eine Familie sind“, sagte sie mehr zu sich selbst.
Von draußen erklang das Geräusch abendlichen Verkehrs.
Sie nahm die Disk. Versteck sie, flüsterte ihr eine innere Stimme zu, die nicht ihre war, sondern die von Wolf. Ohne die Frage, keine Antworten.
Antworten … Wahrheiten? Lügen? dachte sie. Nur eines davon …

II
Eric blieb an einer Ampel stehen. Das Motorrad unter ihm vibrierte angenehm, und er konnte es kaum erwarten, wieder Gas zu geben.
Auf dem Rücken trug er einen Rucksack, der prall gefüllt war mit Lebensmitteln. Er war bis nach Downtown Seattle gefahren, um die Sachen zu holen, die Faith und er so gerne aßen. Allen Klischees einer Schwangerschaft zum Trotz, war Faith eine normale Esserin.
Von wegen, Eiscreme und saure Gurken.
Eric schmunzelte.
Die Ampel sprang auf Grün. Eric gab Gas und raste, die Geschwindigkeitsbegren-zung nur leicht überschreitend, die Straße entlang Richtung Auburn.
Metamenschen aller Couleur – zumeist Nachtschwärmer, die vermutlich vor kurzem aufgestanden waren – rasten an ihm vorbei. Ihre Gesichter vermischten sich mit den Neonlichtern, die an den Restaurants und Kaufhäusern angebracht waren. Namen und Werbeflächen, die zu Streifen in der frühen Nacht wurden.
Nur noch ein paar Häuserblocks.
Eric ertrug es kaum noch. Er dachte daran, dem Bike noch einmal ordentlich die Sporen zu geben, doch zu dieser Zeit waren die Cops von LoneStar Security verstärkt unterwegs – irgendwo hörte Eric über das Rauschen des Gegenwinds sogar Sirenen heulen –, und er konnte es sich nicht leisten, gerade jetzt, auf dem Heimweg, von den Mietbullen erwischt zu werden.
Er hatte keine SIN. Er gehörte zu den Metamenschen, die durch das soziale Netz gefallen waren, deren Maschen so breit waren, wie es die Konzerne vorgaben. Die Regierungen wurden von Managern gebildet, Juristen waren Lobbyisten, und selbst die dreckigsten Mafiosi konnten einen Platz in einem Konzernrat erhalten, vorausge-setzt, sie verstanden es, den Schein einer autonomen Regierung aufrechtzuerhalten und genügend Geld in die Kassen zu bringen.
Kinderspiel, dachte Eric, ganz der Philosoph, wenn andere die Drecksarbeit machen. Keine SIN, keine Wahl.
Aber auch sie waren Menschen, Faith und er, und bald würden sie um einen Men-schen reicher sein, wenn das Kind in gut einem Jahr zu Welt kommen würde. Sie bei-de waren Metamenschen, Elfen genaugenommen. Faith war schön. Eric konnte sich ebenfalls sehen lassen, sah man einmal von dem linken Ohr ab, dessen Spitze abge-schossen worden war, und der Narbe auf der Schläfe darüber. Spuren einer wilden Zeit, die, so hoffte Eric, wenigstens für den Moment zur Ruhe kommen würde.
Hoffnung, hatte er gelernt, war in den Schatten jedoch mit Vorsicht zu genießen. Oft schon hatte er zu hoffen gewagt, endlich der Vergangenheit entronnen zu sein, um ein neues Leben anfangen zu können. Atsusa und Daishi (die elenden Stoiker) hatten ihm gesagt, daß Gefühle andere – nicht zu letzt einen selbst – in Gefahr brachten. Eric hat-te zugehört, hatte genickt, es verstanden. Aber es war eben nicht sein Weg. Er liebte und wollte es der ganzen Welt zeigen. Wenn er jemandem vertraute, dann wollte er diese Person nicht dadurch vergrätzen, indem er dieses Vertrauen nicht zeigte. Wenn er jemanden nicht mochte, so ging er auf Abstand. Er mußte nicht jedermanns Freund sein, aber seine Freunde durften von ihm erwarten, daß er für sie da war. Darin be-stand seine eigentliche Stärke. In dem Versprechen, da zu sein.
Wieder einmal war er an einer Ampel stehen geblieben.
Wartete.
Fuhr weiter, als das Licht grün wurde.
Nur noch ein Block.

III
Faiths Nerven waren plötzlich zum Zerreißen gespannt. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als eine Welle von widerstreitenden Gefühlen über sie hinwegrollte.
Besorgt ging sie zum Fenster hinüber, daß den Blick auf ein Café freigab, in dem sie und Eric sich nach langer Zeit wiedergesehen hatten. Danach waren sie in ihre Woh-nung gegangen, hatten sich geliebt …
Etwas krachte.
Draußen, auf der Straße, fast direkt vor ihrer eigenen Haustür, geschahen viele Dinge gleichzeitig.
Ein Motorrad rutschte über den Asphalt, raste in die Säule eines VidPhones und kam endgültig zum Liegen. Nur wenige Meter weiter lag ein voller Rucksack.
Der Fahrer, eine große, schlanke Gestalt, erhob sich mühsam, nahm zitternd den Helm ab und warf ihn achtlos beiseite.
„Eric …“ flüsterte Faith in die Nacht hinein.
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, was eigentlich vor sich ging, rannte sie hinaus, um ihm zu helfen.
Kaum hatte sie einen Fuß auf den Bürgersteig gesetzt, sah sie, wie ein halbes Dut-zend Männer Eric umrundet hatten. Sie trugen dunkelblaue Anzüge, maßgeschneidert und vermutlich mit Kevlar ausgekleidet. Alle hatten Schlagstöcke in den Händen.
Eric stand da, keuchte. Er hatte die Krallen ausgefahren. Sein Blick zuckte – raste! – von einem Gegner zu nächsten. Seine Reflexbooster mochten hilfreich sein, doch er war angeschlagen von dem Sturz, und gegen sechs Mann konnte er allein nichts aus-richten, gesteigerte Reflexe hin oder her.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte Faith die Situation erfaßt.
Sie knurrte.
Dann sprang sie.

Alles geschieht sehr schnell.
Wie auf Kommando greifen die Männer Eric an. Er reagiert so gut er kann: Er wehrt einen Schlag ab, reißt dem Gegner eine tiefe Wunde mit den implantierten Krallen. Blut spritzt, der Mann schreit, verstummt dann.
Ein anderer setzt zu einem Angriff an, wird aber von hinten niedergerissen.
Faith knurrt aus tiefster Kehle – Wolf zeigt sich in ihren Augen – und schmettert den Angreifer mit dem Gesicht auf den Asphalt. Etwas knirscht unangenehm. Der Mann rührt sich nicht mehr.
Eric schreit auf, als ein Dritter seine Schulterblätter erwischt. Der Elf schlägt der Län-ge nach hin, seitlich, sein Gesicht schrammt über den Boden.
Der Mann steht über ihm, breitbeinig, zum Schlag ausholend.
Wie ein Maulesel tritt Eric aus und sorgt dafür, daß der Bastard niemals Kinder haben wird. Als der Mann sich krümmt, dreht Eric sich um, verpaßt ihm noch einen Tritt in die Magengrube und rammt ihm dann die Krallen in die Eingeweide, so daß sich das Stöhnen des Angreifers in ein heiseres Gurgeln verwandelt.
Faith indessen wird von den restlichen Dreien in die Mangel genommen. Sie umkrei-sen sie, vorsichtig, abschätzend. Einer der drei hält es nicht aus und stürmt auf sie ein. Faith knurrt erneut, weicht dem Schlag aus, dreht sich und schmettert dem Mann ihren Ellenbogen ins Genick. Er gerät ins Straucheln, fällt hin, rührt sich nicht mehr.
Die beiden letzten weichen zurück, als sie ihre Augen sehen.
Eric findet sein Gleichgewicht wieder, spannt noch einmal die Muskeln an und läuft auf die beiden Angreifer zu, die Krallen weit ausgestreckt. Doch er kommt nicht mehr dazu, den Angriff auszuführen. Er sieht, wie Faith erneut einen Ausfall riskiert und dem Mann, der ihr am nächsten steht, an die Kehle springt. Dieser weicht nicht einmal aus, und die Elfe schlägt ihn mit der vollen Wucht ihres schlanken, aber trainierten Körpers zu Boden.
Knurrend hält sie ihn unten, während der Letzte, ein wirkliches Häuflein Elend, win-selnd die Flucht ergreift.

Eric fuhr die Krallen ein, beugte sich vor und stützte die Arme auf den Knien ab. Seine langen Haare, die bisher zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, hingen lose her-unter.
Faith preßte dem Angreifer, der neben dem geflohenen als einziger noch am Leben war, mit den Knien auf den Asphalt. Der Mann konnte kaum atmen, so stark war der Druck, den die Elfe auf seinen Brustkorb ausübte. Sie konnte förmlich mitverfolgen, wie sein Gesicht blau anlief, während die Atemzüge immer kürzer wurden. Wenn sie nicht bald von ihm abließ, würde er ersticken.
Aber sie ließ nicht los, drückte statt dessen noch fester zu. Die Instinkte, die Wolf ihr gegeben hatte, waren stärker als die Vernunft, den Mann am leben zu lassen. Sie hatte eine Aufgabe. Sie schützte Eric, ihr ungeborenes Kind und nicht zuletzt sich selbst. Wer sich mit ihr anlegte, mußte damit rechnen, den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr zu erleben.
Sie merkte erst jetzt, daß jemand eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte.
Sie drehte sich um.
Eric stand da, schwitzend und nach Luft ringend, aber seine Augen waren so ruhig wie zwei Seen im Frühjahr. In dieses Grau war Faith damals eingetaucht, hatte sich dar-in verloren und wollte nie wieder zurückfinden.
„Ist schon gut. Der ist bedient“, sagte Eric leise. „Wir sollten erst einmal von hier ver-schwinden, okay?“
Faith nickte. Sie stand auf.
Das Blau wich aus dem Gesicht des Mannes, wurde heller, verschwand und verwan-delte sich dann in eine fast natürliche Hautfarbe. Der Körper atmete wieder, doch der Mann war ohne Bewußtsein.
Faith trat ihn mit dem Fuß.
„Jetzt hat er wirklich genug“, sagte Eric, sog einige Male scharf die Luft ein und ging dann zu dem Rucksack, der wie durch ein Wunder heil geblieben war. Nur ein Riemen war bei dem Sturz aufgegangen, weshalb das Ding heruntergerutscht war.
„Glaubst du, du kannst so fahren?“ fragte Faith besorgt, als sie sah, daß er schwank-te.
„Muß ich wohl“, sagte er nur und hob den Rucksack auf, nestelte an dem Riemen und stellte ihn wieder ein. Er grinste ein wenig. „Noch alles heil, zum Glück. Das mei-ste sind Konserven, der Rest Plastikflaschen.“
„Ist das jetzt ein Ja?“ fragte Faith, fast schon verschmitzt.
Eric nickte. „Steig schon mal auf.“
„Okay.“ Sie tat, wie ihr geheißen.
Der Elf gab ihr den Rucksack. „Du setzt ihn am besten auf. Wenn ich ihn auf dem Rücken habe, behindert dich das nur. Einverstanden?“
„Klar“, sagte sie und blickte sich ein wenig nervös um. Irgend etwas war da … ei-gentlich immer seit … Nein, schalt sie sich, dafür ist jetzt keine Zeit!
Eric schien nichts zu bemerken. Er setzte sich vor sie hin, ließ sich von ihr umarmen, so daß sie sich festhalten konnte, und warf die Maschine an. Das Dröhnen des Motors hallte durch die mittlerweile verlassenen Straßen.

IV
Tzunami hatte es satt, auf Eric zu warten. Er hatte versprochen, sie zu benachrichtigen, sobald es etwas Neues gab. Das war nun drei Tage her, und Tzu kam sich versetzt vor.
Auf der anderen Seite – Eric und Faith hatten nun einmal Sorgen, die soweit gingen, daß sie sich nicht immer melden konnten. Eric hatte es versprochen, und halten würde er es, klar. Nur, Tzu war nicht sonderlich erpicht darauf, irgendwann zu ihm zu fahren oder ihm eine Nachricht zu hinterlassen, nur um als Antwort zu bekommen, daß Faith und er in einen Unfall geraten waren oder einer der Konzerne sie geschnappt hatte.
Und seit dem Auftauchen dieses seltsamen Christopher schrillten auch bei Tzunami unablässig die Alarmglocken.
Manchmal dachte sie daran, einfach alles stehen und liegen zu lassen. Sollten sich die beiden doch um ihren eigenen Kram kümmern! Doch dann kam in ihr der Drang wieder hoch, etwas zu tun, irgendwas. Sie war zu sehr in die Sache verwickelt – und zu sehr mit den beiden verbunden –, als daß sie ihnen gerade jetzt den Rücken kehren konnte.
Zugegeben, die abrupte Trennung von Eric, mit dem sie plötzlich, wie über Nacht, eine Beziehung angefangen hatte, nachdem Faith verschwunden geblieben war, hatte ihr zugesetzt – doch sie hatte nichts anderes von ihm erwartet. Faith war sein Ein und Alles. Tzunami wußte das und respektierte seine Entscheidung.
Sie verließ die Bar, in der sie gesessen und Cola getrunken hatte, mit Blick auf ihren Taschensekretär: Keine Nachricht.
„Blödmann“, sagte Tzunami und stapfte über die Straße zu ihrem Wagen. Sie setzte sich hinein und fuhr los. Wo Faith wohnte, wußte sie; und wo Faith war, konnte Eric nicht weit sein. Und wenn sie die beiden aus dem Bett scheuchte, sie mußte wissen, was vor sich ging. Als Freundin. (Außerdem, dachte sie, wäre es doch ganz witzig, die beiden im wahrsten Sinne mit heruntergelassenen Hosen zu erwischen.)
Tzunami grinste, bog an der nächsten Kreuzung links ab und fuhr Richtung Auburn.
Auf dem Weg ließ sie das Radio laufen. Nur ein paar News, nichts Außergewöhnli-ches. Gestern hatten sie mal wieder eine Leiche aus der Bucht gefischt, die obligatori-schen Betonschuhe an den Füße, geknebelt und mit Ketten beschwert. Ein weiterer John Doe in der langen Liste nicht wirklich vermißter Personen.
Tzunami lenkte das Fahrzeug nach rechts, blieb an einer Ampel stehen. Nur noch ein paar Blocks.
Sirenen heulten in der Stille auf, und nur Momente später rasten zwei Einheiten von LoneStar an ihr vorbei, sehr zum Verdruß dreier anderer Fahrer, denen sie die Vorfahrt nahmen. Tzu schüttelte den Kopf, gab Gas, als die Ampel umsprang, und fuhr weiter. Es war nicht mehr weit, und irgendwie freute sie sich sogar, die zwei zu sehen. Mit Faith verband sie nicht so viel – sogar weniger, als Eric es gerne gesehen hätte –, doch dem gemeinsam Erlebten zuliebe machte sie sich schon Sorgen. Es gehörte da-zu, eine Freundin zu sein.
Sie parkte das Auto in zweiter Reihe – die Cops waren längst vorbei gefahren, und auf der Straße war es still – und stieg aus. Sie sicherte das Fahrzeug und lief zu dem Apartmenthaus hinüber, in dem Faiths Wohnung lag.
Fünf Männer, alle übel zugerichtet, lagen vor der Tür. Einer schien noch zu atmen. Ein anderer lag da, der Torso aufgerissen, in einer Lache aus Blut und Eingeweiden. Die restlichen drei waren weniger schlimm zugerichtet – nun gut, einem fehlte das halbe Gesicht, ein anderer hatte ebenfalls ein paar Liter Blut eingebüßt –, aber ebenso tot.
Tzunami trat an den mit den tiefen Schnitten näher heran und machte sich die Mühe, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Drei tiefe Abdrücke, alle dazu geeignet, einen erwachsenen Mann in Stücke zu reißen. Schöner Anzug, dachte sie. Zu blöd, daß er dermaßen mit Blut versaut ist. Die Kleidung war mit Kevlar ausgestattet, doch der Wucht des Schlages hatte das Gewebe nicht standgehalten. Man mußte kein Genie sein, um festzustellen, wer den Kerl fertiggemacht hatte. Eric war mit kybernetischen Krallen ausgestattet, die er auch einzusetzen wußte.
Tzu wandte sich ab und betrachtete die drei anderen Toten. Gebrochene Genicke waren wohl die Todesursache, daneben war ein weiterer erstochen worden, ebenfalls drei Löcher. Tzu schätzte, daß der mit dem verschmierten Gesicht auf Faiths Konto ging. Wenn die Frau zulangte, gab es kein Halten mehr. Unwillkürlich mußte Tzunami schlucken. Wenn es um den Schutz von Freunden ging, konnte Faith zu einer richtigen Furie werden.
Nachdem sie zu der Ansicht gelangt war, die Toten genügt inspiziert zu haben, wandte sie sich dem Bewußtlosen der Runde zu. Sie ging neben ihm in die Knie, zog die Jacke aus, legte sie beiseite – und verpaßte dem Mann eine Ohrfeige, die be-stimmt noch seine Nachfahren spüren würden.
Das Gesicht des Mannes ruckte zur Seite, aber er öffnete die Augen nicht. Tzu ver-zog das Gesicht, holte erneut aus, schlug wieder zu. Diesmal mit Erfolg. Der Mann öffnete die Augen und starrte Tzunami an, als wolle sie ihn gleich fressen.
„So, jetzt erzählst du der lieben Tante Tzunami mal, was hier geschehen ist“, sagte sie säuselnd, beugte sich dabei näher an zu ihm hinunter. „Und wenn du brav bist, be-kommst du auch einen Lolli.“ Sie grinste frech. „Aber wenn nicht …“
Tzunami brauchte den Satz nicht zu beenden. Der Mann verstand auch so.
Er schluckte einige Male, holte Luft, sammelte Speichel. Dann begann er röchelnd zu erzählen.
Mit jedem Satz wurde der Ausdruck in Tzunamis Augen ernster.
Als der Mann schließlich geendet hatte, stand sie auf und sah ihn nun an, als wollte sie ihn wirklich fressen. „Ich hoffe, du verarschst mich nicht. Denn wenn ja, mache ich aus dir Hackfleisch und verfüttere dich nach und nach an meine Nachbarskatze. Klar?“
Der Mann nickte.
„Brav.“ Das freche Lächeln kehrte in Tzunamis Gesicht zurück, erreichte jedoch nicht ihre Augen. „Und jetzt zieh Leine.“
Wie ein geprügelter Hund stand der Mann auf, humpelte davon.
Tzunami machte sich nicht die Mühe, ihm nachzusehen, sondern trat statt dessen in eine Gasse neben dem Haus. Dort schloß sie die Augen und konzentrierte sich. Sie breitete ihre Hände aus, bewegte stumm die Lippen, und als sie die Lider öffnete, stand ein Stadtgeist vor ihr. Der Geist hatte nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Men-schen, aber er sollte auch keinen besonderen Zweck erfüllen. Er würde nur einen kur-zen Auftrag ausführen, zurückkehren und Tzunami Bericht erstatten. Mehr nicht.
Der Geist flog los, folgte einer Spur.
Tzu würde warten. Wieder einmal.
Mit den beiden hatte man tatsächlich nur Ärger, dachte sie. Das würde eine Wahn-sinnsgeschichte geben, wenn all das stimmte, was der Mann ihr gesagt hatte.

V
Eric raste einfach weiter die Straße entlang, immer geradeaus schauend, während Faith sich an ihm festhielt, die Augen geschlossen, nur auf die Vibrationen des Motorrads achtend.
Vor ein paar Minuten hatten sie die Cops abgehängt. Eric hatte einfach das Licht ausgeschaltet, hatte ein paar Haken geschlagen und war in irgendeine Straße gefahren. Die beiden LoneStar-Einheiten waren an ihnen vorbeigerast.
Minuten waren verstrichen, dann fuhren die Cops unverrichteter Dinge wieder zu-rück.
Erst dann hatte Eric es gewagt, den Motor des Bikes wieder zu starten und weiterzu-fahren. Für eine Weile waren sie in Sicherheit. Aber wer auch immer ihnen diese sechs Kerle auf den Hals gehetzt hatte, würde sicher nicht so einfach locker lassen.
Die Interstate breitete sich vor ihnen aus wie ein graues Band, regelmäßig von gel-ben Streifen unterbrochen. Eric wagte einen Blick nach hinten. Faith war noch da, hielt sich fest. Ob sie schlief oder nicht, konnte er nicht sagen, aber sie hatte ein wenig Ru-he verdient. Genau wie er. Er fühlte, daß sein Arm wehtat. Er war unsanft gelandet, als man ihn bei der Rauferei zu Boden geworfen hatte, und nur die künstlichen Reflexe und Faiths schnelles Eingreifen hatten ihn davor bewahrt, als Hundefutter zu enden. Sein Gesicht brannte, und der Fahrtwind hatte ihn daran erinnert, daß es mehr als nur ein paar Kratzer waren.
Would you catch the bullet that was meant for me, schoß es ihm durch den Kopf. Er hatte den Song schon lange nicht mehr gehört, und dennoch kam er immer wieder hoch.
Sie würde, ohne Zweifel.
Umgekehrt war es genauso.
Wie konnte man einen Menschen nur so lieben?
Eric kannte die Antwort nicht, er akzeptierte einfach, daß es so war. Sollten sich an-dere den Kopf darüber zerbrechen, wie das eine zum anderen führte, wie Menschen einander kennenlernten, heirateten, Kinder hatten. Es geschah nun einmal. Warum also fragen? Wenn man fragte, zweifelte man. So einfach war das.
Das Motorrad raste weiter, immer die Interstate entlang. Es gab kein Ziel.
Im Moment hielt er es einfach für das Beste, Abstand zu gewinnen.

VI
Ein Restaurant in Downtown Seattle.
Eine Frau und ein Mann, beide Elfen, sitzen vor einem Vier-Sterne-Menü, unterhalten sich über dies und das – worüber ein Paar, das seit mehr als zwei Jahrzehnten verhei-ratet ist, sich eben unterhält – und genießen den Wein, der direkt aus Tir Tairngire im-portiert worden ist. Möglicherweise sogar extra für diesen Anlaß.
Das Restaurant ist um diese Zeit nur spärlich besucht – vielleicht noch ein halbes Dutzend ähnlicher Paare sitzt in dem Hauptraum.
Ein Handy summt leise.
Der Mann, der Elf, der bis eben mit seiner Frau über ihre gemeinsamen Finanzen und über die weiteren Pläne für die nahe Zukunft gesprochen hat, nimmt das Gespräch an.
„Jenson.“
Er wartet, hört zu.
„Ja, gut. Machen Sie weiter.“ Er beendet das Gespräch und schaltet das Handy aus. „Wie erwartet“, sagt er zu seiner Frau, die ruhig an dem Wein nippt und sich den Mund, der nur dezent mit Lippenstift versehen ist, mit einem seidenen Tuch abtupft. Ihre Hände stecken in schwarzen Samthandschuhen, doch am Ringfinger sieht man deutlich, wie sich ihr Ehering durchdrückt.
„Lanier wird nicht begeistert sein, nehme ich an“, sagt sie, lächelt schmal, betrachtet ihren Mann.
„Natürlich nicht“, antwortet der Mann, der sich am Telefon mit Jenson gemeldet hat. „Aber auch Miles weiß, daß alles nur Geschäft ist. Heute mag er diese Faith noch als Protegé sehen, aber sie muß nur entbehrlich werden. Dann wird Lanier Anweisungen geben, ein paar Stellen zu streichen.“
„Sicher.“ Die Frau nickt. „Du weißt aber auch, Liebling, daß jeder entbehrlich ist. Die-se Leute sind und bleiben Runner bis zum Ende ihres erbärmlichen Lebens. Lange wird es nicht dauern, bis er Ersatz für sie aufgetrieben hat.“
Diesmal ist es dem Mann zu nicken. Er stützt das Kinn auf eine Hand. „Und natürlich Eric.“
„Was ist mit ihm?“ fragt sie süffisant.
„Nun, ich meine“, antwortet er lächelnd, „ist Faith aus dem Weg, bleibt nur noch, die beiden getrennt zu halten.“
Den Rest des Abends schweigen sie. Es muß nichts mehr gesagt werden. Sie wis-sen, was sie zu verlieren und was sie zu gewinnen haben.
Sie beenden das Essen, eine dreistellige Nuyensumme wird übertragen, dann verlas-sen sie das Restaurant, lächelnd, zufrieden und bereits mit neuen Plänen.
Manche Dinge, so ist die Ansicht des Ehepaars Jenson, sind einfach zu erreichen, wenn man sie nicht forciert. Warten können sie. Sie haben Zeit.
Eine Limousine fährt vor. Der Fahrer öffnet die Tür, läßt die beiden einsteigen, mit einem Nicken in Richtung seiner attraktiven Arbeitgeberin, geht um das Fahrzeug her-um, steigt ein und fährt los.


VII
Der Geist verfolgte die Spur unablässig. Sein Auftrag war einfach: Er sollte Faith finden, zurückkehren und Tzunami berichten, wo sie war und was sie gerade tat. Nicht mehr, nicht weniger.
Wer Faith war, wußte der Geist, als Teil seiner Aufgabe. Er raste, so schnell wie ein Gedanke, die Straße entlang, die für ihn nichts weiter war als ein breiter, gräulicher Streifen ohne Bedeutung. Nicht die Straße verfolgte er, sondern die silberfarbene Spur, die sich darüber zog. Unregelmäßig, mit Schlenkern und Kurven, aber stetig in eine bestimmte Richtung.
Nicht schwer, der Linie zu folgen.
Der Geist nahm nun etwas wahr, schwach zunächst, aber deutlich spürbar. Wärme, Gefühle, manchmal auch Stimmen, die miteinander redeten, auch wenn die Worte für den Geist derzeit nicht von Bedeutung waren. Er mußte sie finden. Dann erst würde alles andere an Bedeutung gewinnen.
Die Gefühle wurden stärker, konzentrierter, während die silberne Linie immer heller zu leuchten begann. Der Geist mußte sich nicht beeilen, Zeit spielte für ihn keine Rolle.
Auch die Stimmen wurden lauter, deutlicher, als wären die Silben ein zunächst un-scharfes Bild, das mehr und mehr an Konturen gewann. Erst Umrisse. Schließlich Ton-höhe, Vibration, Intonation.
Der Geist kam näher.
Er nahm die Worte wahr, ehe er sie verstand.
„… keine Angst haben …“
„… und wenn … was ist mit …?“
„… nein, das glaube ich nicht …“
Die silberne Spur wich von der Straße ab, machte eine scharfe Kurve, hinein in eine kleinere Straße, der zu einem Gebäude führte. Hier verblieb die Spur, verwandelte sich in einen silbernen Punkt, der sich im Inneren hin und her bewegte.
Nervosität, gepaart mit einem Gefühl von Freiheit, lag in der Luft.
Der Geist schwebte darüber, tauchte ab, drang durch das Mauerwerk, folgte der Spur weiter, die sich durch dunkle, enge Gänge zog, bis hin zu einem Zimmer. Er mußte keine Türen öffnen, sich nicht die Mühe machen, anzuklopfen. Er trat durch das Holz, folgte einfach der Spur, folgte Faith.
Dann erst sah er sie.
Der Geist blieb stehen.
Faith sah ihn an.

VIII
„Und was jetzt, Eric?“ fragte Faith. „Ein Hotel ist ja gut und schön, aber irgendwann werden sie rauskriegen, wo wir sind. Was hast du dann vor?“
Eric atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sicher, die Fahrt hierher war ein wenig überstürzt gewesen, aber er hatte es für besser gehalten, erst einmal etwas Distanz zwischen sich und Downtown zu bringen – am besten auch von Seattle. Doch am Ende waren sie nur bis an den Stadtrand gefahren, hatten sich dort ein billiges Hotel gesucht – eine Übernachtung, 30 Nuyen, keine Fragen.
„Wo sollen wir sonst hin?“ fragte er und setzte sich neben sie aufs Bett, nur um gleich wieder aufzustehen.
Er sagte etwas, doch die Worte verloren sich plötzlich im Nichts.
Faith hörte ihm nicht mehr zu, weil sie etwas sah. Es trat durch die Tür, durch das Holz. Es hatte nur wenig mit einem Menschen gemein. Es hatte nur die grobe, äußere Form eines Humanoiden.
Ein Geist. Nicht gefährlich, im Gegenteil. Ein Stadtgeist mit einem Auftrag.
Faith lächelte, nickte dem Geist zu.
Plötzlich war Erics Stimme wieder da.
„Faith? Was ist los?“ Er folgte ihrem Blick, sah jedoch nichts. Was auch immer da war, zumindest war Faith nicht sofort aufgesprungen, wie sie es oft getan hatte – zu oft in letzter Zeit –, wenn Gefahr im Anzug war. Sie lächelte sogar.
Eric runzelte die Stirn, sah sie an, machte den Mund auf, dann wieder zu.
„Alles in Ordnung“, sagte sie ungewohnt ruhig. „Nur ein Stadtgeist. Er sollte nach uns sehen, nicht mehr. Vermutlich hat Tzu ihn geschickt.“ Faith sah ihn an, lächelte dann und lehnte sich zurück, bis sie, die Füße noch auf dem Boden, rücklings auf dem Bett lag.
Auf einmal sah sie sehr müde aus.
„Ein Geist, hm?“ sinnierte Eric und seufzte. „Ist er noch da?“
Faith schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie nur und schloß die Augen.
So müde …
Eric ging hinüber zum Fenster, statt sich neben sie zu legen, und blickte in die Dun-kelheit hinaus, die bereits so lange ihre beiden Leben bestimmte. Nachts waren die Schatten länger, wenn sie von künstlichen Lichtern geworfen wurden. Ebenso künstlich schien das Leben zu sein, das sie führten. Eric kam sich vor, als würde man ihn auf Schritt und Tritt überwachen, ihm zuflüstern, was er tun sollte. Ein Echo aus vergange-nen Zeiten.
Zugegeben, da war eine Stimme in seinem Kopf, ein tatsächliches Echo von etwas, das seit Jahren im Hintergrund brütete und nur darauf wartete, nach vorn zu springen – und wieder die Kontrolle zu übernehmen. Eric wußte, daß schon einmal ein Macht-wechsel stattgefunden hatte (ein besseres Wort fiel ihm nicht ein), aber er konnte sich nicht wirklich daran erinnern. Alles, was er hatte, waren fragmentarische Erinnerungen und Theorien, die er mühsam während der letzten Wochen und Monate gesammelt hatte, angefangen bei Ryan bis hin zum Tod von Hiob.
Nein, nein, nicht darüber nachdenken. Wichtiger war, wie es nun weiterging. Natür-lich, die Vergangenheit ließ ihm keine Ruhe. Doch im falschen Moment zurückzu-schauen, würde vermutlich in einem Desaster enden.
Er wandte sich vom Fenster – von der Dunkelheit – ab und machte den Mund auf, um Faith zu sagen, was er dachte. Doch als er sie sah, wie sie mit geschlossenen Au-gen auf dem Bett lag und schlief, schwieg er. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in re-gelmäßigen Abständen, während die rechte Hand auf ihrem Bauch ruhte.
Auf der Zukunft, dachte Eric in einem Anflug von Poesie.
Er ging zu Faith hinüber, hob sie hoch und legte sie ganz aufs Bett. Er breitete die Decke über sie aus. Sie drehte sich auf die Seite, schob eine Hand unter das Kissen. In letzter Zeit war Faith oft müde. Sie arbeitete viel – für sich, für Eric und nicht zuletzt für das neue Leben, das in ihr wuchs –, manchmal zuviel.
Eric setzte sich auf die Bettkante. Betrachtete sie. Prägte sich – zum wievielten Male schon? – die Züge ihres Gesichtes ein, welches im Laufe der Zeit so viele Veränderun-gen erfahren hatte. Sie war kränklich blaß gewesen, aber immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Zwar war die Blässe noch da, aber sie zeugte eher von Erschöpfung denn von Krankheit. Und wenn sie jetzt lächelte, war es Eric, als wollte Faith ihn wärmen. Verloren war er, verloren in diesem Lächeln.
So saß er da, die Nacht hindurch bis zum Morgengrauen, hielt Wache, auch wenn nicht glaubte, daß tatsächlich etwas passieren würde. Nicht heute, nicht morgen. Wo-her er diese Gewißheit nahm, wußte Eric nicht. Er meinte, es liege an Faith – an der Liebe seines Lebens.
Die Sonne kroch über den Horizont.
Eric ließ sich in die Kissen sinken.
Schlafen, dachte er. Neben ihr einschlafen und für immer träumen.
Und der Schlaf kam.

IX
Faith träumt.
Sie befindet sich in einer Wohnung – nicht in ihrer in Auburn, sondern in den Bar-rens.
Erics Bleibe.
Alles ist da. Die Regale, die Bücher, die Musikanlage, das Cyberdeck. Das alte Sofa, durchgesessen, aber bequem. Sie läßt den Blick schweifen. Da ist die Tür zum Schlaf-zimmer.
Unwillkürlich geht Faith dorthin, obwohl sie genau weiß, daß sie es nicht sollte. Weil sie weiß, was sie hinter der Tür finden wird.
Dennoch streckt sie die Hand auf, drückt sie gegen die Tür, die leise aufschwingt.
Das Schlafzimmer ist in ein seltsames Zwielicht getaucht, das weder von Sonne noch Mond herrührt. Das Bett ist sauber, die Laken straff gespannt, Decken und Kissen or-dentlich gefaltet und aufgeschüttelt.
Ein Körper liegt da, trübt das ansonsten saubere Bild.
Faith geht näher heran.
Der Körper auf dem Bett ist der einer Frau. Sie trägt ein hellblaues Kleid mit dünnen Trägern, das knapp über den Knien abschließt. Ihre Haare sind rot und umranden ihr Gesicht wie ein verquerer Heiligenschein. Es sieht aus, als hätte sie jemand so drapiert. Die Frau regt sich nicht, atmet nicht einmal. Ihre Haut ist weiß, die Augen sind ge-schlossen. Ihre Fingernägel sind kurz und unlackiert. Ihre Füße stecken in hellblauen Pumps.
Faith beugt sich über sie. Sie will wissen, wer sie ist.
Lange läßt die Antwort nicht auf sich warten. Faith hat das Gesicht schließlich schon gesehen – auf dem Video. Die sitzende Frau, die erst das Interview gibt, dann in einer Gummizelle völlig ausrastet.
Jennifer …
Ja, Jennifer, sagt eine Stimme, und plötzlich sieht Faith sich mit Eric konfrontiert. Er steht vor ihr, als wäre er aus dem Boden gewachsen, und blickt sie mit diesen grauen Augen an.
Was hast du mit ihr gemacht, Eric? fragt Faith.
Doch Eric schüttelt nur den Kopf, blickt auf die Rothaarige, auf Jennifer, mit einem Gesicht, das nicht wirklich seins ist.
Eric, sagt Faith erneut, ohne zu wissen, wieso. Sie weiß, daß sie nicht mit Eric redet. Sie spricht mit Demon. Mit einem Echo.
Eric ist nicht hier. Die grauen Augen richten sich auf Faith. Sie sind kalt, abweisend, gefühllos. Und, nein, er hat ihr nichts getan.
Demon kommt näher, bis er nur noch eine halbe Armeslänge von Faith entfernt steht. Sie kann ihn atmen hören. Kann sehen, wie kalt er ist. Sie spürt nichts in seiner Gegenwart. Er ist bar jeder Emotion.
Eric tut niemandem etwas. Er kann es nicht, sagt Demon. Ich aber schon. Sie war schön, intelligent – verliebt. Das dumme Ding. Er lächelt, aber das Lächeln erreicht nicht seine Augen. Ich rate dir, Faith, lauf schnell weg. Denn Eric wird nicht ewig durchhalten. Er gibt bereits nach. Der Druck ist zu groß für ihn. Lauf weg, Faith.
Demon geht an ihr vorbei, hinaus aus dem Schlafzimmer.
Faith will nach ihm greifen, ihn bitten, Eric in Ruhe zu lassen, ihn freizugeben, aber sie kann sich nicht bewegen.
Es ist kalt geworden in dem Raum. Faith ist allein mit Jennifer, der Toten mit den roten Haaren, die erst liebte und dann starb.
Hinter Faith geht die Tür zu. Als sie sich endlich umdrehen kann, ist die Tür ver-schwunden, die Wand, alles.
Nichts bleibt, außer dem seltsamen Zwielicht, das weder von Sonne noch Mond stammt.


Als sie die Augen aufschlug, bemerkte sie die Decke, die auf ihr lag. Faith konnte sich nur daran erinnern, daß sie in diesem Hotel abgestiegen waren, nach ihrer kurzen Flucht aus Auburn.
Die Bilder des Traumes, den sie gehabt hatte, verblaßten allmählich, verschwanden im Licht der bereits aufgegangenen Sonne, die ihr Licht – so ganz anders als in ihrem Traum – zur Gänze in das Zimmer sandte.
Faith blinzelte, drehte sich um – die Decke rutschte von ihrem Körper – und sah Eric, der, das Gesicht abgewandt, neben ihr schlief. Sie spürte die Ruhe, die von ihm aus-ging. Nicht bei vielen Gelegenheiten fühlte sie sich so geborgen wie früh am Morgen, wenn sie in seinen oder er in ihren Armen aufwachte.
Und genau deshalb wußte sie nicht, ob nicht doch alles nur Fassade war.
Sie dachte an den Traum – an die Fetzen, an welche sie sich erinnerte – und an das Video. Alles, das Bild von Erics alter Wohnung, das Video und die Theorien über seine Vergangenheit, hatten sich in diesem Traum zu einer unangenehmen Szene vermischt.
Faith schauderte, und auf einmal war ihr kalt, obwohl sie voll angezogen war. Sie wünschte sich in seine Arme.
Was auch immer passiert sein mochte, ob Erics alter ego tatsächlich schuld an dem Schicksal dieser Frau war oder nicht, spielte derzeit keine Rolle. Sie wollte nur in seiner Nähe sein, seine Wärme spüren, in seinen Armen liegen. Spüren, daß sie lebte.
Sie drehte sich vollends zu ihm um, bettete ihren Kopf auf einem Arm, legte den anderen um Erics Brust – er nahm instinktiv ihre Hand – und schloß die Augen. Schla-fen würde sie nicht können, aber allein zu spüren, daß er da war, neben ihr, reichte aus, um das Gefühl der Geborgenheit von einem Moment zu einer Ewigkeit auszudeh-nen.
Wenn so die Ewigkeit aussah, dachte Faith, dann sollte es so sein.

X
Tzunami war mehr oder weniger zufrieden. Sie saß vor den Sandwiches, die Gimmik – eine Freundin von Daishi, von der sie ein Apartment gemietet hatte – gemacht hatte. Neben dem Teller stand eine Tasse mit Tee. Dampf stieg daraus hervor wie Nebel aus einem Sumpf.
Der Geist war gegen fünf Uhr morgens zurückgekommen, nachdem er alles genau beobachtet hatte. Er hatte Tzu vermittelt, wie die Gefühlsregungen der beiden Anwe-senden – Ein Mann, bei Faith. Traurig, ringt mit sich selbst, hatte er ihr zu verstehen gegeben – während der Nacht gewesen waren. Faith, so hatte Tzunami vor ihrem in-neren Auge gesehen, war schon früh eingeschlafen, während Eric bei ihr gesessen und bis kurz vor Sonnenaufgang wach gewesen war. Erst als beide geschlafen hatten, war der Geist zu Tzunami zurückgekehrt, und sie hatte ihn entlassen.
Es war eine spontane Eingebung gewesen, den Geist zu schicken, anstatt Faith oder Eric einfach anzurufen. Die Tatsache, daß die beiden in einem Hotel übernachteten, beruhigte Tzunami nicht unbedingt, aber sie hatte wenigstens die Gewißheit, daß es den beiden gutging.
Während der Geist unterwegs gewesen war, hatte Tzu auch nicht untätig die Hände in den Schoß gelegt. Sie hatte einige Kontakte bemüht und die Leichen von Faiths Haus wegschaffen lassen. Kein Hahn würde nach den Typen krähen, soviel stand fest. Sie hatte selbst die Taschen der Männer durchsucht, mehrere Credsticks – die Gesamt-summe belief sich auf 18.000 Nuyen (nicht viel für Wetwork, aber die Kerle waren auch nicht gerade fähige Killer gewesen) – und sogar eine Art Visitenkarte gefunden, auf der nichts weiter zu sehen war als eine VidPhone-Nummer, geschrieben in ge-schwungener Handschrift. Kein Name, keine Adresse, nur die Nummer, die vermutlich ebenfalls in eine Sackgasse führte.
Tzunami seufzte und sah auf die Uhr. Es war erst nach sieben, und sie saß vor den leckersten Sandwiches von ganz Seattle und bekam keinen Bissen runter. Sie stützte das Kinn auf eine Hand und verzog das Gesicht, während ihr Blick aus dem Fenster wanderte und dort einfach an dem leicht bewölkten Himmel hängenblieb.
Wieso nur mischte sie sich immer wieder ein? War es, weil sie es nicht ertrug, zu sehen, wie die beiden gejagt wurden? Lag es daran, daß sie Eric einfach gern hatte? Für ihn war sie aus sich herausgegangen, hatte die Muschelschale geöffnet, in der sie sich jahrelang eingekapselt hatte. Trotz der schnellen – aber nicht unerwarteten – Trennung von ihm, hatte sich die Schale nicht wieder geschlossen. Sie mochte ihn. Er war ein Freund. Er hatte es versprochen.
Ich werde noch wie er, dachte sie schmunzelnd. Dauernd Sorgen um andere ma-chen und dabei so tun, als wäre nichts, während um mich herum die Welt in Scherben liegt.
Der elende Samariter!
Tzunami seufzte, nahm nun doch eines der Sandwiches vom Teller und biß hinein. Zumindest gab es eine Konstante in ihrem derzeitigen Leben, auch wenn diese nur aus Weißbrot, Gurken, Soja mit Schinkengeschmack und Salatsauce bestand.
Sie biß ein weiteres Stück ab, kaute, bis sie merkte, daß der Bissen schon keiner mehr war, und spülte die Krümel mit Tee hinunter.

XI
Die meisten Leute wissen nicht, wer die Eheleute Jenson sind. Sie treten selten ins Licht der Öffentlichkeit, sind keine Galionsfiguren der großen Konzerne. Sie lassen sich nicht bei Konzerten der High Society oder anderen gesellschaftlichen Anlässen sehen, und wenn doch, stehen sie, trotz ihrer attraktiven äußeren Erscheinung, zumeist etwas abseits.
An diesem Morgen – es ist genau 10.34 Uhr – stehen Carol und Christopher Jenson beim Sektbrunch an einem hohen Stehtisch und unterhalten sich mit einem Mann Ende vierzig, dessen dunkle Haut und hohe Wangenknochen seine Amerindianische Ab-stammung verraten.
Victor Grey gehört nicht zu denen, welche die NAN oder eine andere Nation der amerikanischen Ureinwohner unterstützen. Seine Ziele sind weniger politisch, auch wenn Politik teilweise eine wichtige Rolle spielt. Daß er sich mit den Jesons zu diesem Brunch trifft, ist ungewöhnlich, da er noch seltener als das Ehepaar an solchen Treffen teilnimmt. Doch heute, da es um wichtige Geschäfte geht, macht er eine Ausnahme.
Grey ist kein hohes Tier in Konzernkreisen, doch durch geschickte Investitionen, zu-meist in Gründstücke und Immobilien, hat er sich beträchtlichen Reichtum verschafft, den er zwar nicht mit vollen Händen ausgibt, aber dennoch genießt. Und er trifft sich mit den Jensons, weil sie ihm ein lukratives Angebot machen, welches seine Erwartun-gen noch zu übertreffen scheint.
Sie reden eine Weile, lachen über Christophers Witze, besprechen Zahlen und Fak-ten, während Carols Mandelaugen Grey genau unter die Lupe nehmen, ihn manchmal gar anfunkeln – aufreizend, aber nicht zu viel –, und Grey immer mehr dem Charme des Paares verfällt.
Sie trinken nicht mehr als zwei Gläser – Carol nippt nur gelegentlich, während Chri-stopher ruhig trinkt und Grey sogar etwas mit höheren Prozenten bestellt. Das genügt auch. Viele Geschäfte sind bereits abgeschlossen, bevor man sich überhaupt mit den Verantwortlichen trifft, so auch in diesem Fall. Grey ist voll und ganz dafür, Grundstük-ke in Auburn zu erwerben, in welche die Jensons – diese großartigen Menschen und Geschäftsleute – danach investieren wollen, um den Lebensstandard in Auburn für die hart arbeitenden Konzernangestellten noch zu erhöhen. Bei gleicher Beteiligung, ver-steht sich.
Christopher reicht Victor die Hand. Dieser ergreift sie und erachtet das Geschäft für abgeschlossen. Danach verabschiedet er sich höflich von dem Ehepaar, empfiehlt sich noch einmal mit sanftem Nachdruck bei Carol und geht von dannen, die Blicke der beiden im Rücken, um sich mit einem anderen Hai in der Geschäftswelt zu treffen, der ebenfalls zu diesem Brunch geladen ist.
Würde Carol ihren Mann nicht besser kennen, könnte sie schwören, er würde lächeln.


XII
Faith duschte. Sie genoß die Ruhe, das warme Wasser, das Alleinsein für eine Weile. Das Rauschen des Wassers schien alle Gedanken zu unterdrücken.
Sie würden zurückfahren. Heute noch. Eric, impulsiv wie er war, hatte einfach Ab-stand zwischen sie und dem Ärger bringen wollen, und dafür konnte sie ihm nicht bö-se sein. Eric hatte kein Leben, das er mit Planen verbrachte. Wenn man ihm genau zu-hörte, betrachtete er das Leben, das er führte, nicht einmal als sein eigenes. Es war ein Gefühl, als hätte er sich dieses Leben nur geliehen – oder gestohlen –, und war sich bewußt, daß er es irgendwann würde zurückgeben müssen.
Faith seufzte. Da waren sie nun doch, die Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, kleine Wassertropfen lösten sich aus ihren Haaren, die an ihrem Kopf klebten. Sie sah an sich hinunter, blieb einen Moment mit dem Blick an ihrem Bauch hängen, sah auf ihre Fü-ße, auf das Wasser, das sich unter ihr bildete, nur um sofort in den Abfluß zu strömen.
Das ist real, sagte sie sich. Du bist hier, stehst unter der Dusche. Eric ist im Schlaf-zimmer und sucht unsere Sachen zusammen. Das ist die Realität. Sich Gedanken um Eventualitäten zu machen – was bringt das schon?
Die Tür zum Bad ging auf. Faith drehte sich um und sah Erics Schemen durch das milchige Plexiglas der Duschkabine. Er ging zum Spiegel, wusch sich die Hände, sagte aber kein Wort.
Faith stellte das Wasser ab. „Eric?“
Er antwortete nicht.
Auf einmal wurde ihr bewußt, warum er nichts sagte. Die Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu, aber sie mußte wissen, ob sie recht behielt.
Natürlich hast du recht, sagte eine tiefe, grollende Stimme in ihr, die gleichzeitig ihre und die von Wolf war. Du spürst nichts. Da ist nichts. Und dieses Nichts ist die Gefahr.
Faith schob die Kabinentür nur einen Spalt weit auf, bedeckte dabei mit dem freien Arm ihre Brüste, als würde sie sich schämen. Sie hatte das Gefühl einem Fremden ge-genüberzustehen.
„Eric?“ fragte sie noch einmal, ohne wirklich zu glauben, daß sie eine Antwort erhal-ten würde. Sie glaubte nicht einmal, daß der Mann, dessen Äußeres sie doch so gut kannte und der im Bad vor dem Spiegel stand, überhaupt auf diesen Namen reagierte.
Eric – Nein, der Fremde! – drehte sich zu ihr um, betrachtete sie.
Schließlich ein Lächeln.
Faith blieb beinahe das Herz stehen.
Sie hatte dieses Lächeln schon gesehen.
In ihrem Traum …
Ihr blieb nicht einmal zeit, um zu schreien.

XIII
Faith kann nicht schreien.
Demon preßt ihr eine Hand auf den Mund. Der Zeigefinger der anderen Hand ruht auf seinen geschlossenen Lippen, und er schüttelt langsam den Kopf.
Sie umfaßt seinen Arm, drückt fest zu, versucht die Hand von ihrem Mund zu neh-men, aber es gelingt ihr nicht. Er hält den Arm einfach ausgestreckt, verschließt ihren Mund, und nur ihre Augen können ausdrücken, was sie fühlt.
Hilflos. Ausgeliefert.
Längst, so weiß sie, hätten ihre Instinkte anspringen und sie sich verteidigen müs-sen, aber ihre Instinkte versagen, weil es nichts gibt, gegen das sie sich sträuben könn-te. Ansonsten reagiert sie auf Haß, Wut, Geilheit – alle starken Gefühle.
Aber Demon … er ist vollkommen leer, wie ausgehöhlt. Sie spürt nichts, nicht ein-mal Haß, nicht einmal Kälte. Es ist, als wäre Eric aller Emotionen beraubt und zu die-sem Anderen geworden, der vor Faith – nackt und ausgeliefert, wie sie ist – steht und jedes Wort, jede Regung ihrerseits bereits im Keim erstickt hat.
„Ich werde dir nichts tun“, sagt Demon leise, neutral. Es ist Erics Stimme, Faith er-kennt sie wieder, aber der Tonfall ist so kühl, fast analytisch.
„Schrei nicht“, sagt er. „Es würde nichts nützen, wenn du schreist, schon allein des-wegen, weil dich hier jeder ignorieren würde und es derzeit nichts an der Situation ändert.“
Demon nimmt die Hand von ihrem Mund.
Reflexartig bedeckt Faith ihren Körper mit den Händen, dreht sich zur Seite, kann aber den Blick nicht von seinen Augen nehmen.
„Was geschieht jetzt?“ fragt sie leise, errötend vor Scham. Wieso nur? Er kennt sie doch, weiß, wie ihr Körper aussieht!
Nein, Demon nicht, sondern Eric.
Aber das ist nicht Eric!
„Du ziehst dich an und gehst. Das ist für uns die beste Option.“ Seine Stimme ist und bleibt bar jeder Regung. Als würde er es nicht für nötig erachten, seine Gefühle mit ihr zu teilen.
Als wenn er jemals wieder etwas mit dir teilen würde, schießt es ihr durch den Kopf, und die Röte auf ihrem Gesicht wird um so dunkler. Wut und Angst stecken darin, aber auch Sorge.
„Was willst du?“ fragt sie und versucht, ihre Wut unter Kontrolle zu bringen. Um ihre Entschlossenheit zu untermauern, steigt sie aus der Dusche, packt ein Handtuch, wik-kelt es sich um den schlanken Körper und geht, wenn auch etwas wackelig, zurück ins Schlafzimmer, wo sie sich auf das Bett sinken läßt und unbewußt ihren Bauch mit den Händen bedeckt.
Sie will nicht gehen. Nein, sie will wissen, was mit ihm ist. Mit Eric. Mit Demon.
Der Elf – etwas in ihr weigert sich, ihm einen Namen zu geben – folgt ihr, geht hin-über zu ihrer Kleidung und reicht sie ihr. Sie sieht ihn an, schüttelt den Kopf. Sie ver-sucht, etwas in seinen Augen zu erkennen, irgendeine Regung. Doch nichts. Seine Augen sind leer und kalt.
Faith zieht sich unwillkürlich zusammen, weil ihr ein Schauer über den Rücken läuft. Es kommt ihr vor, als würde plötzlich etwas fehlen.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagt sie scharf.
„Das ist richtig.“ Diese verdammte Ruhe in seiner Stimme! Lange wird sie das nicht ertragen. „Das liegt daran, daß es dir nichts nutzt, zu wissen, was ich will und was nicht.“
„Laß ihn in Ruhe. Bitte. Laß Eric in Frieden.“
Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, bemerkt Faith, wie dumm und naiv diese Bitte ist. Sie senkt den Blick, die Finger in ihrer Kleidung vergraben.
„Wie sollte ich?“ fragt der Elf. „Eric ist Teil einer Kette von Ereignissen, die niemals hätte in die Wege geleitet werden sollen. Er ist nicht Teil des Projektes, sondern ledig-lich eine Anomalie. Er ist die Persönlichkeit, die ursprünglich nie existiert hat.“
„Was meinst du damit, ‚nie existiert’?“
Der Elf schüttelt den Kopf. „Zieh dich an und geh. Wenn du lebst, existiert Eric even-tuell weiter. Ich benötige ihn vielleicht noch. Aber du mußt gehen. Wenn ich ihn unter Kontrolle halten will, muß er das Gefühl haben, daß du sicher bist.“
„Was?“ Faith will am liebsten aufspringen. Seine Kehle zerfetzen. „Du sagst, er ist eine Anomalie, und trotzdem willst du deine zweite Persönlichkeit schützen? Wozu?“
„Nicht für lange. Und es ist besser, du weißt es nicht.“
Das kannst du nicht zulassen! schreit eine Stimme in Faiths Kopf. Du darfst ihn nicht aufgeben? Wozu hast du gekämpft? Wozu gelitten? Die Stimme wird zu einem Knur-ren, dann zu einem tiefen Grollen. Du mußt ihn zurückholen!
Ja, antwortet Faith.
Der Elf blickt sie an.
Faith spannt die Muskeln …



XIV
Daß es nicht ihre Art war, anderen nachzuspionieren (erst recht, wenn nichts dabei heraussprang), hinderte Tzunami nicht daran, es trotzdem zu tun. Zwar ahnte sie, daß Faith und Eric bald zurückkommen würden, aber sie war neugierig – und sie wollte Eric eins reinwürgen dafür, daß er sich nicht gemeldet und es ihr überlassen hatte, die Leichen wegzuschaffen.
Der Geist, den sie letzte Nacht losgeschickt hatte, um sie zu suchen, hatte ihr einen ungefähren Eindruck vermittelt, wo das Hotel war. Anstatt selbst zu fahren – irgendein Idiot hatte letzte Nacht ihrem fahrbaren Untersatz die Luft aus den Reifen gelassen und den Lack zerkratzt –, hatte sie Daishi gebeten, sie zu chauffieren. Sie hatte ihm gesagt, sie wolle zu Faith, und Daishi, wenn auch erst skeptisch, hatte eingewilligt. Jedoch, und das war die Bedingung bei dem Deal, würde Tzunami allein zurückkommen müs-sen, weil Daishi sich um Atsusa kümmern wollte.
„Irgendwann wird er schon wieder aufwachen“, sagte Tzunami. Sie lag mehr im Sitz als daß sie saß. Sie hatte die Scheibe auf der Beifahrerseite heruntergelassen und die Füße rausgestreckt, die sie im Takt der Musik, die sie eingelegt hatte, wippte.
Daishi antwortete nicht, sondern sah nur auf die Straße. Tzunami wußte, daß die Ge-schichte mit Atsusa ein wunder Punkt war – schließlich lag er im Koma, und zwar, weil er versucht hatte, Faith zu retten und sich sein alter ego (allmählich kotzte Tzu das wirklich an) zudem noch mit Eric angelegt hatte –, aber sie konnte nicht einfach wie Daishi stoisch im Auto sitzen.
Manchmal, dachte sie, hat Eric vielleicht doch recht. Gefühle sind kein Verbrechen, und nicht immer machen sie einem Probleme … Na ja, und Schweine können ja be-reits fliegen, wenn man nur ein bißchen Magie einsetzt und ihnen einen kyberneti-schen Propeller in den Arsch schiebt.
Tzunami drehte den Kopf beiseite, damit Daishi aus den Augenwinkeln nicht sehen konnte, daß sie grinste.
Der Fahrtwind kühlte die Temperatur im Auto angenehm herunter, so daß Tzunami dieser Trip richtig Spaß zu machen begann. Sie hatte Daishi gesagt, es würde nicht lange dauern, und tatsächlich sah sie nach nur knapp zwanzig Minuten Fahrt die Sei-tenstraße, die zu dem Hotel führte, welches der Geist ihr gezeigt hatte.
„Sind gleich da“, sang sie und stellte die Füße wieder nach unten.
Daishi nickte.
Sie fuhren auf einen Parkplatz vor dem Hotel – nichts weiter als ein weiß gestriche-ner Block ohne Charme, dafür aber recht sauber –, und Daishi hielt den Wagen an, ohne auszusteigen.
„Danke für den Ritt“, sagte Tzunami, stieg aus und drückte die Tür zu. Dann drehte sie sich noch einmal um, lugte durch das Fenster und warf Daishi einen Luftkuß zu. „Den Rest darfst du behalten.“
Daishi machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er hob statt dessen die Augen-brauen, lächelte schmal und drehte den Wagen, um zurückzufahren. Tzunami winkte ihm spielerisch nach, bis das Auto an der nächsten Kreuzung verschwunden war und ging dann zum Hotel rüber. Es würde nicht schwer sein, dem Manager Faiths und Erics Zimmernummer zu entlocken. Charme spielte dabei eine große Rolle. Oder Dreistig-keit. Und von beidem hatten Tzu mehr als genug.
Sie marschierte also geradewegs in das kleine Foyer.
Offensichtlich hatte sie Glück und brauchte weder charmant noch dreist, sondern nur etwas neugierig sein. An der Rezeption war niemand zu sehen. Tzunami sah einmal nach links, nach rechts, sagte leise „Hallo“, ohne daß es wirklich jemand hätte hören können und beugte sich dann über den Tresen der Rezeption.
Der Computerbildschirm war an. Tzu sah seitlich drauf, scrollte mit einer Taste die abgebildete Tabelle rauf und runter, bis sie die gewünschte Zimmernummer fand. Eric hatte sie beide unter dem Namen Hiobson eingetragen. Komiker. Auffälliger ging’s kaum.
Tzunami prägte sich die Nummer ein und sah sich nach einem Fahrstuhl um. Fehlan-zeige. Das Hotel hatte nur drei Etagen, und dummerweise schrieben die Bauvorschrif-ten eben vor, daß nur Gebäude, die mehr als drei Stockwerke hatten, Aufzüge haben mußten. Sie zuckte mit den Schultern und ging zur Treppe.
Das Zimmer lag im zweiten Stock, und Tzunami nahm zwei Stufen auf einmal, hüpfte mehr nach oben als daß sie lief, und sah sich kurz darauf einem Flur mit grauem, aus-getretenem Teppich gegenüber. Es sah aus wie in einem billigen Crime Trid.
Hallo, Klischee! dachte Tzunami, denn ausgerechnet am anderen Ende des Flures fand sie die Tür zu der Zimmernummer.
Anklopfen oder lauschen?
Tzunami grinste.
Spaß mußte auch sein.
Sie lehnte sich leise gegen die Tür und preßte ein Ohr auf das dünne Holz.
Erstmal hörte sie nichts. (Ob die zwei noch schliefen?) Dann Schritte, Faiths Stimme ertönte, leise, aber vibrierend. Eric antwortete, aber die Worte waren gedämpft.
Wieder Stille.
Tzunami runzelte die Stirn. Sie versuchte erneut, etwas zu hören, und die Neugier siegte über die Vernunft. Sie preßte das Ohr fester gegen die Tür.

XV
Faith wartete. Nur einen Moment noch, dann würde der Elf erneut versuchen, sie zu überzeugen. Ein letztes Mal vielleicht. Dann würde es ernst werden.
„Du verstehst den Ernst der Lage offenbar nicht“, begann er erneut. „Du steckst schon zu tief in der Sache drin. Ich kann nicht verhindern, daß Eric ein Teil von mir geworden ist, aber das wird sich mit der Zeit legen. Und bis dahin solltest du Abstand waren.“
Es war keine Drohung, kein Rat. Lediglich Fakten.
„Du glaubst, ich lasse ihn im Stich?“ fragte Faith und wartete darauf, daß er in Reich-weite kam.
Im Moment stand er vor dem Fenster, die Arme hingen seitlich hinab, und er mu-sterte sie abschätzend. Schließlich, um seine Argumente noch einmal zu untermauern, ging er zu ihr hinüber, nahm ihr die Kleidung und hielt sie ihr vor das Gesicht.
„Geh“, sagte er kalt.
Nein! schoß es heiß durch Faiths Kopf. Sie sprang auf – das Handtuch löste sich, doch Wolf hatte jetzt die Kontrolle, so daß es nicht darauf ankam – und versuchte, ihn zu packen.
Der Elf vollführte eine halbe Drehung und wich dem Sprung aus, als hätte er es kommen sehen. „Du willst ihn nicht aufgeben. Aber bedenke, daß auch ich das Recht habe, mein Leben zu verteidigen, wenn es sein muß.“
„Dein Leben?“ grollte Faith. „Du lebst doch gar nicht, du existierst nur!“
Die Augen des Elfs waren kalt. Er reagierte nicht, sondern wartete, schätzte die Si-tuation ein.
Faith wußte, daß sie ihm körperlich überlegen war, selbst wenn er sowohl die Re-flexbooster als auch die Krallen einsetzte, würde sie ihn in die Knie zwingen. Doch was dann? Selbst wenn sie den Kampf gegen den Körper gewann, wer garantierte ihr ei-nen Sieg über die Persönlichkeit?
Erneut machte sie einen Ausfall, doch anstatt ihn anzuspringen, drehte sie sich ein-mal um die eigene Achse und trat zu. Ihr nacktes Bein wirbelte durch die Luft, zer-schnitt sie geradezu, während Wolf laut in ihrer Kehle grollte und knurrte.
Der Arm des Elfs schoß hoch, blockte den Tritt ab, doch Faith stieß sich mit dem ste-henden Bein vom Boden ab und rammte ihm den Fuß in die Eingeweide.
Er taumelte zurück.
Eine Chance.
Faith kam zurück auf die Beine, schoß auf ihn zu, packte ihn bei den Armen und rammte ihn mit voller Wucht gegen die Tür. Das Grollen in ihrer Kehle schwoll immer mehr an.
Kämpfe! sagte Wolf.
„Kämpfe!“ wiederholte Faith laut, aber nicht an sich selbst gerichtet. „Kämpfe, Eric! Komm zurück! Bitte! Ich liebe dich! Ich brauche dich!“
Sie drückte den Elf gegen die Tür, stärker, heftiger.
Etwas knackte.
Die Tür gab nach.

XVI
Tzunami machte einen Satz nach hinten, als die Tür, vor der sie stand und lauschte, plötzlich barst, aus den Angeln brach und kippte. Was sie da sah, hätte sie zum lachen gebracht, wäre die Szene selbst nicht so todernst gewesen:
Faith lag – nackt, knurrend –, die Hände und Knie fest auf Erics Körper gepreßt, auf dem Elf und drückte ihn mit aller Kraft nach unten.
Eric machte keine Anstalten, aufzustehen.
Statt dessen sah er kurz Tzunami an, dann Faith.
Seine Augen! Was war mit seinen Augen geschehen? Sie waren so kalt.
„Oh, nein“, sagte Tzunami und wurde erst jetzt von Faith wahrgenommen. Sie hob den Blick, sah Tzu an.
Nein!
Es war ein Fehler gewesen, den Elf auch nur für den Bruchteil einer
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